Ankern mit dem Taschenrechner | ocean7

Ankern mit dem Taschenrechner

von | Nov 10, 2023

Die Berechnung der nötigen Kettenlänge.

Von DI Harald Melwisch

Ich habe mich in den vergangenen 20 Jahren mit der Mathematik der Ankerketten beschäftigt und seit 15 Jahren verschiedene Artikel über nötige Ankerkettenlängen geschrieben. Trotzdem geistert der unverantwortliche Ratschlag „3- bis 5-fache Wassertiefe stecken“ noch immer in Lehrbüchern und Skripten herum. 
Zum Teil gibt es natürlich eine Zeitkonstante, mit der falsche Tatsachen verschwinden, zum anderen Teil ist es leider so, dass die Wahrheit über Ankerkettenlängen nicht in einer einfachen Faustregel auszudrücken ist. Ketten nehmen immer die Form von Kettenlinien an, und die sind schwierig zu berechnen. Ich werde oft gefragt, ob es nicht einfachere Formeln gibt, die man mit dem Taschenrechner berechnen oder in eine einfache Anker-App einbauen kann. Hier eine Methode, die mit dem Taschenrechner klappt, nur Wurzelrechnung muss er können.

Kapitel 1: Welche Kraft am Anker muss ich erwarten?  
Das ist die erste Frage, die man sich stellen muss beim Ankern. Ohne eine Antwort auf diese Frage ist die Länge der nötigen Ankerkette nicht zu bestimmen. Hier die Überlegung dazu: Abgesehen von dynamischen Effekten bei Windstößen und Wellen ist die Horizontalkraft, welche auf die Kette vom Schiff her wirkt, die Widerstandskraft des Windes. Schiffe sind komplizierte Gebilde aus vielen Einzelteilen, die dem Wind ausgesetzt sind. Jedes Teilchen hat eine Querschnittsfläche „A“ und einen Widerstandsbeiwert „Cw“, die in Summe den Windwiderstand ausmachen. Für jedes Schiff muss daher eine komplizierte Addition aller dieser Einzelwiderstände vorgenommen werden. Dementsprechend haben Tabellen, die man so im Internet findet, unterschiedliche Werte. Allen Berechnungen ist aber gleich, dass beim Ankern das Schiff nicht von vorne zählt, sondern seitlich schwoiend bei ca. 30°.

Beispiele: Aus Unterlagen der Firma Plastimo (auch Ankerlieferant) lässt sich für eine 12 Meter lange Segeljacht (30° im Wind) ermitteln: Windwiderstand 327 kp bei Bft 6.
Bei dem Franzosen Alain Fraysse findet man für eine 12 Meter Segeljacht (30° im Wind): Windwiderstand 204 kp bei Bft 6.
Zu diesen Unterschieden kommt noch, dass Segeljachten auch unterschiedlich gebaut sind. Wir können also entweder unser Schiff selbst vermessen oder einen brauchbaren Erfahrungswert wählen. Es könnte sein, dass die Firma Plastimo Sicherheitsmargen eingebaut hat. Die Werte von Alain Fraysse finde ich für die Freizeitschifffahrt einen ganz guten Erfahrungswert. 
Die obigen Werte waren für 12 Meter lange Segeljachten, für ähnliche Schiffslängen kann man den Windwiderstand etwa mit dem Quadrat der Schiffslänge korrigieren. Die Formel, welche wir also für übliche Segeljachten (Slup) als Anhaltspunkt nehmen können, ist daher (nach den Werten von Alain Fraysse):

Die Windgeschwindigkeit kann man selbst messen oder vom Wetterbericht für die Dauer des Ankerns nehmen. Böen sind natürlich auch am Anker wirksam. Aber es gibt noch verschiedene Schiffstypen: 
· Für Katamarane bitte mit 1,6 multiplizieren.
· Für Motorboote bitte mit 1,3 multiplizieren.

Ein Beispiel: Mit meiner 14 Meter langen Slup erwarte ich Windstöße von Bft 6. Ich nehme also v = 12 m/s und L = 14 m. Ergebnis der Rechnung: 278 Kilopond. Bei einem gleich langen Katamaran: 445 Kilopond. Das sind schon ziemlich große Kräfte, die Kette und Anker da wegzustecken haben.

Kapitel 2: Berechnung der nötigen Kettenlänge aus der Windkraft am Schiff   
Bei den Überlegungen zur Kettenlänge geht es darum, dass Ketten, solange sie nicht ganz vom Grund abgehoben sind, angenehm federn und den Ankerschaft horizontal belasten. Der Anker wird dadurch keiner plötzlichen Ruckbelastung ausgesetzt und ist in seiner besten Lage belastet, nämlich parallel zum Grund. 
Ist die Kette aber ganz vom Grund abgehoben, dann ist sehr schnell Schluss mit lustig. Nach wenigen weiteren Zentimetern kommt die Kette steif, federt gar nicht mehr und hebt den Ankerschaft vom Grund. Daher ist es anzuraten, soviel Kette zu stecken, dass das völlige Abheben vom Grund auch bei der maximal zu erwartenden Kraft am Schiff vermieden wird. 
Zur Berechnung dieser nötigen Kettenlänge brauche ich die maximale Horizontalkraft „H“, die auf das Schiff einwirken wird. Es spielen noch mit: Die Wassertiefe (plus Höhe Bugbeschlag) „t“ in Metern und das Gewicht der Kette pro Meter „q“ in kg/m. Das Gewicht von verschiedenen Ankerketten ist redlich gleich, nur abhängig vom Durchmesser der Glieder. Beispiele: Glieder 8 mm: 1,35 kg/m, Glieder 10 mm: 2,25 kg/m.
Für andere Durchmesser kann man folgende Abschätzung verwenden: Gewicht pro Meter in Kilogramm = 0,022 • (Durchmesser in Millimeter)².

Allerdings: Unter Wasser ist die Kette leichter als oben. Da der meiste Teil der Kette unter Wasser ist, sollten wir diese Werte noch mit 0,87 multiplizieren. 

Die Formel für die Länge der Kette, die bei der vorgegebenen Kraft voll abgehoben wird vom Grund, ist ­ausnahmsweise keine komplizierte Kettenlinie. Man braucht nur einen Rechner, der Wurzelziehen kann:

s = Wurzel aus ( 2. t . H / q + t²) 

Dabei ist:
„s“ Die Länge der zu steckenden Kette in Meter
„H“ Horizontalkraft am Bug in Kilopond 
„q“ das Gewicht pro 1 Meter Kette in kg/m (im Wasser)
„t“ Wassertiefe plus Höhe Bugbeschlag in Meter

Man sieht auf einen Blick, dass das Verhältnis Kettenlänge zu Wasser­tiefe, das in manchen Lehrbüchern angeführt wird, kein expliziter Parameter ist. 

Bemerkung: Die nötige Kettenlänge hängt annähernd von der Wurzel aus der Wassertiefe ab, nicht linear von der Wassertiefe. Doppelte Wassertiefe braucht nur 1,4-fache Kettenlänge, aber halbe Wassertiefe braucht doch noch 0,7-fache Kettenlänge. 

Dynamische Effekte
In der Praxis ist noch das Problem der dynamischen Kräfte zu beachten: Wird die gesamte Masse des Schiffes durch einen Windstoß oder Wellen beschleunigt, dann muss die federnde Kette diese Bewegungsenergie abbauen. 
Ist die Beschleunigung so groß, dass die Kette die Energie nicht voll aufnehmen kann, dann schlägt das durch auf den Anker, und zwar mit steifgekommener Kette. Dabei entstehen noch größere Ruckkräfte als die eigentliche Windkraft.
Wenn dieses dynamische „Steifkommen“ der Kette passiert, dann hebt die steifgekommene Kette den Ankerschaft in die Höhe und das quittieren alle Anker mit dem Absinken der Haltekraft. Mehr als 10 Grad sollte der Schaft bei keinem Anker angehoben werden. Daher ist die Faustregel für diesen dynamischen Überlastungsfall: Nie weniger als sechsfache Wassertiefe setzen, 1/6 entspricht nämlich 10 Grad. 
Für diese „Notmaßnahme“ gilt ausnahmsweise als Faustformel eine lineare Abhängigkeit von der Wassertiefe.

Zurück zu unserem Beispiel. Mit meiner 14 Meter langen Slup erwarte ich Windstöße von Bft 6. Da ich unruhiges Wetter (Windstöße und Wellen) erwarte, ankere ich auf 8 Meter Wassertiefe. Die Kette kann nämlich bei größeren Wassertiefen mehr Energie abbauen als bei kleinen Wassertiefen. Meine Kette hat 10 mm dicke Glieder und wiegt 2,25 kg/m ober und 1,96 kg/m unter Wasser.
Vorher habe ich berechnet: Bft 6 macht bis zu 278 kp Kraft am Anker. Ergebnis der Rechnung: 48 Meter Kette zu stecken. Die Regel für den Überlastungsfall, mindestens 6-fache Wassertiefe, ist also gerade erfüllt.  

Zum Schluss noch eine wichtige Bemerkung: Speziell bei unruhigen Verhältnissen durch Windstöße oder Wellen muss die Energie der gesamten Tonnage des Schiffes abgefangen werden. Das erzeugt wesentlich größere Kräfte am Anker als der statische Wind und ist in den meisten Fällen der Grund für losgerissene Anker. Mehr Kette stecken ist also immer sicherer!

Illustration: Fer Gregory/Shutterstock.com

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