Von Alfred Zellinger
19. Mai, Wien: Ab heute sind die Cafès wieder geöffnet. Wieder Struktur im Leben. Es gilt: Wenn ich nicht segeln bin / bin ich in Wien / und da im Hawelka / oder auf dem Weg dorthin… Doch morgen fahre ich erst wieder mal zum Boot in Venedig, beginne die Segelsaison, wie meist, mit der Eröffnung der Biennale.
„How will we live together“ ist das Motto der diesjährigen Architekturbiennale. Seit es diese gibt, zwischen den Jahren der Kunstbiennale, hat man jedes Jahr einen guten Grund, Venedig anzulaufen.
Mein Boot, die Katawa, eine Grand Soleil 46.3, ist seit einigen Jahren in der Marina Sant’Elena stationiert, nur wenige Minuten entfernt vom Eingang zu den Giardini mit seinen Länderpavillons. Seit Oktober war ich nicht mehr hier; und, erstaunlich jedes Jahr:
Boot schwimmt noch /
Mast steht noch /
Motor läuft noch.
Und im Kühlschrank Bier noch …
Erster Rundgang durch die Giardini.
An die 200 Länder, hunderte Künstler und Architekten, tausende Werke, unendlich die Ideen … Viele der Exponate hier könnten auch auf der Kunstbiennale zu sehen sein und umgekehrt.
Einziger Unterschied: Bei den Kunstbiennalen gehört es zu guten Ton für Oligarchen, an der Riva Schiavoni ihre neuesten Yachten festzumachen und so der Kulturmeute Europas vorzuführen. Bei der Architekturbiennale ist das noch nicht der Fall.
Danach ein Glas Wein in der Abendsonne, im Cockpit der Katawa in der Marina Sant’Elena – beim Klang der Glocken der aus dem 12. Jhdt. stammenden Kirche Sant’Elena, dem Zapfenstreich der nahen Kadettenschule und den Schreien der Möwen.
Am nächsten Morgen: Boot auswintern: Großsegel und Großschot anschlagen, Sprayhood montieren, Wassertank füllen, Schlauchboot aufpumpen (muss ersetzt werden), Rettungsinsel überprüfen (muss heuer gewartet werden), Seekarten sortieren, Kartenplotter und Radar anschließen, Rettungsringe und Bergeleinen an die Reling …
Wieder zur Biennale.
An Österreichs Beitrag ist, wie meist, genial vor allem der Hoffmann-Pavillon … „Plattform – Urbanismus“ ist der Titel, gut gedacht, doch man schaffte es nicht, die Faszination dieses Themas auch zu visualisieren; man missachtete das was ich einmal „Die Sinnlichkeit der Theorie“ nannte (so der Titel meines ersten Buchs, Wien, 1982).
Danach ins Arsenale und wie zu erwarten: In den ehemaligen Hallen der Seilermeister des Arsenals – hier produzierte Venedig ab 1325 in Fließbandarbeit, wie erst wieder Henry Ford seine Autos ab 1905, jene Kriegsgaleeren, die ihm für Jahrhunderte die Vormacht im Mittelmeer sichern sollten – hier findet man aber auch die fantasievollsten, oft ausgeflipptesten Exponate der Biennale;
ob „The Garden of privatised Delights“ oder „Resilient Communities“ oder „Architecture of Relationships“ oder „Among diverse Beings“ …
Ja, die Menschen müssen sich genbiologisch verbessern, etwa um sich für ein Leben im Weltall zu rüsten; jedenfalls generell um der Stümperei und den Zufällen eines sog. „Schöpfers“ ein Ende zu setzen. Dazu ein Zitat aus meinem bald erscheinenden Faust III:
Der Mensch ist seiner Göttlichkeit /
heut schon viel näher als zu Faustens Zeit.
Die Rettung der Kaffeehäuser setze ich übrigens heute mit Venedigs Florian fort. Es war immerhin das 1. Cafè Europas, das Frauen ohne Begleitung zugelassen hat. Giacomo Casanova hat daraus aufs Angenehmste seinen Nutzen gezogen. Sowas muss man heute noch würdigen.
Und in ein paar Tagen beginnt die 2. Salone Nautico Venezia (29. Mai bis 6. Juni). Nach dessen vielversprechendem Start vor zwei Jahren könnte man sich das ansehen, jedenfalls den nächsten im nächsten Jahr. Das Motto The art of shipbuilding is back home verstehe ich so:
Hier, im Arsenal, führten die Venezianer den Schiffsbau erstmals zu einer hohen Kunst: Die Bestandteile für die Galeeren waren genormt, vorgefertigt und gelagert, sodass in kürzester Zeit Schiffe einsatzbereit gemacht werden konnten. Für die Seeschlacht von Lepanto gegen die Türken sollen 1570 innerhalb von zwei Monaten 100 Galeeren gebaut worden sein.
Das Arsenal, Venedigs Staatswerft, war eine gigantische Fabrik, die leistungsfähigste Schiffsbaustätte ihrer Zeit. Facharbeiter zimmerten hier ganze Kriegsflotten. In Zeiten höchster Betriebsamkeit arbeiteten hier über 16.000 Männer, Arsenalotti genannt. Im 14. Jahrhundert wurden die Lagerhallen gebaut, um Seilwaren und Tauwerk herzustellen – heute Schauplatz der Biennalen.
Venedig war das geschäftigste Hafenzentrum der Adria bis 1797. Erst die napoleonischen Kriege und die Unterwerfung Venedigs unter Österreichs Monarchie brachten den Niedergang. Heute hat die italienische Marine ihre Flotte verlegt: in den Süden, nach Tarent und Brindisi. Es gibt zwar immer noch einen Admiral zur See im Arsenal, zuständig für die nördliche Adria, aber er ist ohne Flotte.
Doch die alten Hallen könnten noch eine glanzvolle Geschichte erzählen: Es waren Männer aus dem Arsenal, die in Rekordzeit die größten Flotten der Christenheit bauten, um fast 500 Jahre lang so viele wichtige Schlachten im Mittelmeer zu gewinnen. Die hier im 15. Jahrhundert gebauten Handelsschiffe sorgten dafür, dass Venedig zum „New York der Renaissance“ wurde. Und zur größten Stadt Europas, mit 175.000 Einwohnern belebter als London oder Paris.
Wie war es möglich, dass auf diesen wenigen Quadratmetern die Flotte entstand, die das byzantinische Reich zerschlug ? Heute dümpelt ein kleines Polizeiboot, wo vor 800 Jahren Tausende von Arbeitern Schiffe im Akkord produzierten …
Auf dem Lido von Venedig.
Wo heute Gäste der Luxushotels in der Sonne liegen, lagerte im Jahr 1202 die Armee des vierten Kreuzzugs. 4.500 Ritter und ihre 5.000 Pferde, 9.000 Knappen und 20.000 Fußsoldaten waren auf dem Weg in das Heilige Land. Die Zeit drängte, Franzosen, Deutsche und Spanier versprachen den Venezianern 20 Tonnen Silber, wenn sie für diese Truppe Schiffe bauten.
Mit diesem Großauftrag begann die Blütezeit des Arsenals. Innerhalb weniger Monate zimmerten die Arsenalotti 100 Kriegsgaleeren und 30 Transportschiffe für die Invasionsflotte der Kreuzritter. Diese revolutionäre Produktivität hat auch Dante Alighieri inspiriert. Im 21. Gesang seiner Divina Commedia setzte er dem Eifer der Arsenalotti ein Denkmal: „Im Arsenale der Venezianer, wo der Teer kocht während des Winters, sieht man einige, die Schiffe bauen, andere teeren, einige bringen die Eisenteile an, wieder andere die Ruder und Segel, manche arbeiten am Bug, andere am Heck.“
Es gibt in der Weltgeschichte keinen anderen Industriestandort, der mit dem Arsenal zu vergleichen wäre. Die Schiffsbauer ermöglichten es der Stadt Venedig zur Supermacht aufzusteigen, die Jahrhunderte überdauerte. „Kanal von Venedig“ nannten die Venezianer das Gewässer vor der Lagune. Erst vor 200 Jahren bekam das seinen heutigen Namen: die Adria.
Ja, und jeder österreichische Segler sollte zumindest einmal im Leben Venedig, die „Herrscherin der Meere“ von See aus anlaufen. Die Architekturbiennale böte eine gute Gelegenheit dafür; sie und damit das Arsenale sind übrigens bis 21. November geöffnet. Arriverdeci, al prossimo anno!
22. Mai bis 21. November: Biennale Architettura 2021
29. Mai bis 6. Juni: Salone Nautico Venezia 2021
Alfred Zellinger ist Schriftsteller und erlernte das Segeln in der O-Jolle des Vaters auf dem Traunsee. Dort segelt er heute einen 30er-Schärenkreuzer, auf dem Meer eine 46er Grand Soleil. Für das ocean7-Magazin als Kolumnist tätig, ist er seit Jahren Verfasser der Sailing Poetry.