Skipper’s Diaries von Thomas Pernsteiner
Die Tiefen der Ozeane stecken immer noch voller Geheimnisse, die es zu erkunden gilt. Ein Tauchgang kann aber auch gefährlich sein, wie der junge Pottwal Jonathan selbst erlebt hat.

So komm doch, Jonathan“, rief die Pottwalmutter ihrem Jungen zu. „Du bist mittlerweile alt genug, um selbst für deine Nahrung zu sorgen, und heute ist ein guter Tag für die Jagd. Trödel nicht so herum.“
Jonathan füllte seine Lungen kräftig mit Luft und tauchte folgsam hinter seiner Mutter ab. Ein bisschen bang war ihm schon bei dem Gedanken, die sonnendurchflutete Oberfläche des Meeres zu verlassen und dorthin zu schwimmen, wo noch nie ein Sonnenstrahl hingedrungen war. Nach 50 Metern wurde das ihn umgebende Blau immer dunkler und das Wasser immer kälter. Doch der große Wal vor ihm schwamm unbeirrt mit kräftigen Schlägen seines Schwanzes in die Tiefe.
Es dauerte nicht mehr lange und er konnte seine Mutter vor Dunkelheit nicht mehr sehen. Er spürte nur noch ihren Körper neben sich und versuchte ängstlich, diesen Kontakt nicht zu verlieren. Seltsame Tiere konnte er im Vorbeischwimmen erkennen. Manche waren fast durchsichtig, andere hatten furchterregende, spitze Zähne und von den meisten ging ein eigentümliches, fluoreszierendes Licht aus. Die beiden Pottwale waren mittlerweile bei gut 350 Meter Wassertiefe angelangt, als die Mutter plötzlich ihre Geschwindigkeit verringerte.

„Spürst du diese Bewegungen im Wasser? So bewegt sich der gefährliche Riesenkalmar“, flüsterte sie Jonathan zu. „Ich werde versuchen, ihn zu fangen. Das wird ein Festmahl für uns werden.“
Langsam drehte sie ihren Kopf, öffnete ihre mächtigen Kiefer. Als ob das Wasser explodieren würde, kam es Jonathan vor, als seine Mutter einen der langen Fangarme der Beute mit ihren Zähnen schnappte. Der Kalmar, an die 20 Meter lang, schlang die anderen Fangarme mit den riesigen Saugnäpfen um den Körper der Angreiferin und wehrte sich mit seinem messerscharfen Schnabel. Ein Kampf auf Leben oder Tod begann.
Jonathan wurde jäh durch das Getümmel von den Kämpfenden getrennt und konnte nur noch an eines denken: „Auftauchen, auftauchen zur hellen Oberfläche, nie wieder hinunter in die Dunkelheit tauchen!“ Er sorgte sich zwar um seine geliebte Mutter, wusste aber, dass sie ein sehr erfahrener Wal war und dieses Abenteuer, wie viele zuvor, sicher überleben würde. Jonathan machte kehrt, um aufzutauchen.
Spott und Stolz
Plötzlich spürte er, wie etwas Langes, Kaltes seine Brustflossen berührte, sich um seinen Körper zu wickeln begann. „Ein zweiter Kalmar“, schoss es Jonathan durch den Kopf. „Er wird mich, unerfahren wie ich bin, töten!“ Voller Angst versuchte er das Unheimliche abzuschütteln und biss mit seinen Zähnen immer wieder in das fremde Wesen, während er mit Höchstgeschwindigkeit nach oben schoss.
Fast gleichzeitig tauchten die beiden Wale, inmitten ihrer Schule, an der Oberfläche auf. Jonathan spürte noch immer die Umklammerung seines Feindes und rief: „Wo ist meine Mutter?“ Sie hatte den Riesenkalmar erlegt und nach oben gebracht.

Die anderen Pottwale bemerkten Jonathans Aufregung und schwammen neugierig näher. Erst als er das prustende Gelächter der anderen Wale hörte, traute sich Jonathan, seine Augen zu öffnen. „Eine tolle Beute hat Jonathan gefangen“, oder „Hoffentlich schmeckt ihm das Ding“, konnte Jonathan vernehmen, als er an sich hinunterblickte. Sein unheimlicher Gegner entpuppte sich als eine dicke, alte Ankertrosse, die im Meer getrieben war.
Als der Spott kein Ende nehmen wollte, kam der Anführer der Walherde herbeigeschwommen und wies die anderen zurecht: „Jeder von euch muss erst beweisen, dass er bei seiner ersten Jagd eine Begegnung, wie sie Jonathan hatte, so besonnen übersteht, noch auftauchen kann und sich außerdem zuerst um seine Mutter sorgt.“
Später, als Jonathan gemeinsam mit seiner Walmutter den gefangenen Riesenkalmar genüsslich verspeiste, spürte er großen Stolz in sich, während ihn die Dünung langsam schaukelte.

Thomas Pernsteiner ist Skipper, allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Schifffahrt und Wasserfahrzeuge.
Fotos: Shutterstock, privat
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