Die Nordadria ist das Hausmeer der Österreicher. Meine eigenen Erfahrungen sind wahrscheinlich stellvertretend für viele Landsleute, die das Meer im Lauf ihres Lebens entdeckten und lieben lernten. Italiens Sandstrände und die Felsküsten Kroatiens standen am Beginn. Als Kind lernte man dort schnorcheln und erkundete die aufregende Unterwasserlandschaft mit ihren geheimnisvollen Bewohnern. Jeder Rote Seestern wurde als sensationeller Fund gefeiert, mit letztem Einsatz hochgetaucht und leider manchmal auch getrocknet. Das stinkende Exponat verlor rasch die Farbe und führte zur Erkenntnis, dass man die Tiere in ihrem Lebensraum belassen muss.
Von Dr. Reinhard Kikinger
Die dalmatinische Felsküste wurde touristisch erschlossen, Griechenland und die Türkei waren die nächsten Ziele, und schließlich kamen sogar exotische Destinationen in tropischen Meeren in Reichweite. Mit der Artenfülle von Korallenriffen, Mangrovenwäldern und indopazifischen Inseln konnte die Nordadria nicht mithalten. Doch in Erinnerung blieben Seegraswiesen, Algenwälder, interessante Fischarten und eine reiche Fauna der Felsküsten. Bei wiederholten Besuchen der Nordadria verfestigte sich jedoch der Eindruck, dass hier die Unterwasserwelt immer mehr verarmt.
Subjektive Täuschung? Es besteht immer die Gefahr, dass in der Erinnerung alte Erfahrungen schöner gespeichert sind, als sie tatsächlich waren. Persönlich ist es schwierig zu beurteilen, ob die Unterwasserwelt, die man vor Jahrzehnten in der Nordadria vorfand, wirklich gesünder und artenreicher war, als sie es heute ist. Objektive Antworten auf diese Fragen können nur wissenschaftliche Untersuchungen geben. Die Ergebnisse eines aktuellen Forschungsprojektes wurden kürzlich von einem Team der Universität Wien präsentiert. Die Kernaussage der Studie bestätigt die persönliche Beobachtung, dass die Nordadria komplette Ökosysteme verliert.
Meeresböden in der Nordadria
Die Studie untersuchte an acht Stationen nordadriatische Meeresböden in Kroatien, Slowenien und Italien, um herauszufinden, ob sich die Lebensgemeinschaften auf diesen Sand- und Schlammböden in den letzten Jahrhunderten änderten und wenn ja, in welche Richtung. Wie kann diese Fragestellung über einen Zeitraum von Jahrhunderten methodisch und aussagekräftig untersucht werden?
Dazu wurde ein natürliches Archiv an Zeitzeugen ausgehoben, nämlich Muschel- und Schneckenschalen, die in den Böden als vergrabene Relikte überdauerten. Diese alten Totgemeinschaften sind Indizien für die Lebensgemeinschaften der damaligen Zeit. Der Vergleich mit den heute an diesen Stationen lebenden Muschel- und Schneckenarten führte zu eindeutigen Ergebnissen.
Archiv am Meeresgrund
Um von den alten Molluskenschalen auf die ehemaligen Lebensräume schließen zu können, waren genaue Artbestimmungen erforderlich. Es wurden hunderte Schalen untersucht. Sobald die Arten bestimmt waren, konnte durch ihre bekannten Lebensraumansprüche auf die damaligen Ökosysteme geschlossen werden.
Um die Zeitspannen der Totgemeinschaften zu erfassen, wurden etwa 2.000 Schalen altersdatiert. Diese rekonstruierten Daten wurden mit den gegenwärtigen Tiergemeinschaften verglichen und zeigen den dramatischen Niedergang dieses Lebensraums und den Verlust seiner Artenvielfalt.
Eindeutiger Trend
In den letzten Jahrhunderten wurden Arten, welche auf der Oberfläche der Sedimentböden leben, seltener. An Stelle dieser reichhaltigen Epifauna dominieren nun im Sand vergrabene Arten, opportunistische Kleinpartikel- und Planktonfresser. Die einst unterschiedlichen Gebiete der Nordadria mit Seegraswiesen, Muschelbänken und den sie bewohnenden Lebensgemeinschaften wurden zunehmend durch eintönige Sedimentflächen ersetzt.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Überdüngung durch Abwässer ging in den letzten Jahrzehnten durch neue Kläranlagen zwar zurück, aber andere anthropogene Einflüsse belasten das System nach wie vor. Katastrophal wirkt sich die Bodenschleppnetzfischerei aus, die devastierte Meeresböden hinterlässt.
Hinzu kommt der Klimawandel, der mit steigenden Wassertemperaturen die Bildung von Meeresschleim fördert und durch Sauerstoffkrisen zum Massensterben der Bodenorganismen führen kann.
Schleichende Veränderung versus Kipppunkt
Die Studie der Wiener Paläontologen belegt eindrücklich den ökologischen Wandel der Nordadria während der letzten Jahrhunderte. Unsere persönlichen Beobachtungen erstrecken sich bestenfalls über einige Jahrzehnte, werden durch den langfristigen Trend aber bestätigt. Allerdings nehmen wir langsame Veränderungen nicht immer wahr oder wir verdrängen sie, wenn wir sie nicht wahrhaben wollen.
Nicht mehr zu übersehen sind dann die Folgen, wenn Ökosysteme kippen. Im Sommer 2021 waren die Schleimplage im türkischen Marmarameer oder das Massensterben im spanischen Mar Menor, wo tonnenweise erstickte Fische angeschwemmt wurden, traurige Beispiele.
Unterschiedliche Beurteilungskriterien
Wolkenloser Himmel, blaues Meer, malerische Sonnenuntergänge, angenehme Temperaturen, die Zikaden zirpen, Quartier und mediterrane Kost sind perfekt. Der Urlaub am Meer ist wunderbar! Leergefischtes Meer, jede Menge Müll unter Wasser, von Seeigeln kahlgefressenes Sublitoral, verschwundene Seegraswiesen und fehlende Braunalgenwälder. Der Urlaub am selben Ort kann erschreckend sein, wenn der Zustand der Unterwasserwelt beurteilt wird.
Ortswechsel. Graue Riffhaie ziehen den Korallenpfeiler entlang, in der Ferne schweben zwei Adlerrochen vorüber, ein großer Napoleonfisch lässt sich von den Tauchern fotografieren. Der Tauchplatz ist fantastisch! Drei Safariboote sind hier, ein Taucher hängt neben dem anderen an der Riffkante, ihre Flossen zerbröseln die letzten Korallen, ein Tauchlehrer lockt den Napoleon mit Futter vor die Kameraobjektive. Ein zu Tode betauchter Platz, auf dem die Baumeister des Thilas, einstmals prächtige Korallen, zerstört sind.
In beiden Beispielen fallen die Beurteilungen derselben Destinationen durch unterschiedliche Personen sehr unterschiedlich aus.
Das vordergründig Spektakuläre überdeckt meist das feine Netz ökologischer Zusammenhänge. Es liegt wie so oft im Auge des Betrachters. Subjektives Empfinden und der ökologische Systemzustand sind leider selten deckungsgleich.
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